analyse: uhrwerk orange

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Einleitung

     

  2. Stanley Kubricks Adaption des Romans „Uhrwerk Orange“

    2.1 Stanley Kubrick und die Entstehung des Films

     

    2.2 Kurze Inhaltsangabe und Aktaufteilung

     

    2.3 Szenische Darstellung und Ästhetik anhand der ersten Einbruchsszene

     

     

    2.4 Ausarbeitung des Protagonisten

  3. Fazit

     

  4. Anhang

     

  5. Literaturverzeichnis

     

  6. Erklärung zur Selbständigkeit der Arbeit

     

 

 

 

 

1. Einleitung

 

Die folgende Facharbeit handelt von Stanley Kubricks 1971 erschienener Literaturverfilmung „Uhrwerk Orange“, die auf Anthony Burgess' gleichnamigen Roman basiert. Ich habe mich für „Uhrwerk Orange“ entschieden, da der Film immer noch von großer Relevanz ist. Dies liegt daran, dass er als ein Meilenstein der Filmgeschichte gilt und bis heute Inhalt zahlreicher Filmstudien ist. Er ist für viele Menschen, mich eingeschlossen, einer der Auslöser dafür, warum sie sich genauer mit der Kunst des Filmes beschäftigen und zeichnet sich durch seine aktuelle Thematik als einen zeitlosen „Klassiker“ aus.

 

Ziel dieser Facharbeit ist es, die filmische Umsetzung der Literaturvorlage vorzustellen und heraus zu arbeiten, was diesen Film so einzigartig macht. Dabei gehe ich besonders auf die unverkennbare Darstellungsweise und die kontroverse Ästhetisierung der Gewalt von Stanley Kubrick ein.

 

Die Arbeit basiert auf einigen Analysen über „Uhrwerk Orange“, Interviews und insbesondere auf mein eigenes Wissen über die Filmtheorie. Hierbei werde ich mit Hilfe der Informationen aus den vorliegenden Quellen und meinen eigenen Beobachtungen Thesen zur audiovisuellen Wirkung aufstellen und erläutern. Zur Ausführung dieser Thesen gebe ich zunächst einige Hintergrundinformationen zu Stanley Kubrick und dessen Film, gefolgt von einer kurzen Inhaltsangabe. Des Weiteren gehe ich näher auf die filmische Darstellung Kubricks anhand einer spezifischen Szene ein. Der Fokus liegt dabei auf der Ästhetik und auf den Mitteln, die der Regisseur verwendet, um diese zu erzeugen. Zum Schluss analysiere ich den Protagonisten und gebe ein abschließendes Fazit darüber, warum der Film als ein Meilenstein der Filmgeschichte angesehen wird.

 

 

 

2. Stanley Kubricks Adaption des Romans „Uhrwerk Orange“

 

2.1 Stanley Kubrick und die Entstehung des Films

 

Stanley Kubrick (* 26.07.1928 Manhattan; + 07.03.1999 Childwickbury Manor bei London) adaptierte 1971 den Roman „Uhrwerk Orange“ des britischen Schriftstellers Anthony Burgess. Kubricks Filmographie ist nahezu perfekt. Jeder seiner Filme bekam überwiegend positive Bewertungen und er hat sich als einer der wichtigsten Regisseure der Welt etabliert.

1951 finanzierte der junge Regisseur seinen ersten Kurzfilm über den Boxer Walter Cartier mit dem Titel „Day of the fight“. Von da an war er sich sicher, dass er seiner Leidenschaft, Filme zu machen, weiter nachgehen wolle. Es folgte ein weiterer Kurzfilm mit dem Namen „Seafarers“ (1951) und 1953 filmte Kubrick seinen ersten Langspielfilm „Fear and desire“. Sein zweiter Langspielfilm „The Killing“ (1956) gilt als sein erster finanzieller Erfolg und eröffnete ihm eine Laufbahn als professioneller Regisseur. Es folgten die Filme „Wege zum Ruhm“ (1957), „Spartacus“ (1960), „Lolita“ (1962) und „Dr. Seltsam oder wie ich lernte die Bombe zu lieben“ (1964). 1961 zog Kubrick nach England, wo er bis zu seinem Tod verblieb. 1968 folgte Kubricks wohl wichtigster Film „2001: Odyssee im Weltraum“. Er wurde für 4 Oscars nominiert (unter anderem beste Regie) und besitzt „Kultstatus“. Außerdem ist „2001: Odyssee im Weltraum“ sein unkonventionellstes Werk. Der Grund dafür, warum dieser Film so wichtig für seine spätere filmische Laufbahn ist, ist, dass er auf der Basis seiner audiovisuellen Darstellungsform erzählt ist. Obwohl seine späteren Filme deutlich konventioneller sind, behielt er dort den Fokus auf die audiovisuellen Darstellungsform bei und machte sie zur ästhetischen Essenz seiner Filme.

 

Drei Jahre später (1971) erschien schließlich „Uhrwerk Orange“. Der Dreh erfolgte vom September 1970 bis zum April 1971. Er zählt damit als Kubricks am schnellsten produzierter Film. Dadurch, dass er gegen einige Genrekonventionen verstaß und eine gesellschaftskritische Grundhaltung ausübt, ist der Film der sogenannten „New Hollywood“-Ära1 zuzuordnen. Er wurde größtenteils an realen Schauplätzen um und in London gedreht. Nur wenige Szenen entstanden im Studio. So drehte der Regisseur beispielsweise in einem verlassenen Theater auf Tagg's Island. Zudem schrieb Stanley Kubrick das Drehbuch, entwarf die Innenräume, führte Regie, filmte einige Szenen eigenhändig mit der Handkamera, wählte die Musik aus, war am Schnitt beteiligt und überprüfte sogar die technischen Bedingungen einiger Kinovorführungen. Tatsächlich wurde während des Drehs viel experimentiert, um Kubricks Visionen so genau wie möglich fest zu halten. Zudem verwendete der Regisseur oft, statt seines Drehbuchs, Seiten aus dem Roman, um seinen Eindruck beim Lesen des Romans filmisch exakt fest zu halten. Maclom McDowell (Alex' Darsteller) erzählte über Kubricks Herangehensweise: „Er wusste nicht was er haben wollte, aber er wusste, was er nicht haben wollte.“2 .

 

Trotz eines X-Ratings3, wurde „Uhrwerk Orange“ für 4 Oscars (bester Film, Regie, Drehbuch und Schnitt) nominiert. Er gewann jedoch keinen. Der Gewinner des Oscars für den besten Film und beste Regie, William Friedkin („Brennpunkt Brooklyn“, 1971), äußerte sich dazu mit folgenden Worten: „Für mich ist Kubrick der beste Regisseur des Jahres. Das heißt, nicht nur dieses Jahres, sondern der Beste. Punkt.“4. Auf der anderen Seite stieß Kubrick auf sehr viel Unverständnis gegenüber seinem Werk. Es wurde von vielen Menschen als gewaltverherrlichend kritisiert und regelrecht verachtet. Der Filmkritiker Roger Ebert nennt den Film sogar eine „ideologische Schweinerei“5. Dieser Hass auf den Film ging soweit, dass Kubrick die englischen Verleiher bitten musste, seinen Film nicht mehr aufzuführen, da er und seine Familie Morddrohungen erhielten. Die Verleiher erfüllten die Bitte aus Respekt vor dem Regisseur. Nach „Uhrwerk Orange“ folgten dann die, ebenfalls von Kritikern gelobten, Filme „Barry Lyndon“ (1975), „Shining“ (1980), „Full Metal Jacket“ (1987) und sein letzter Film „Eyes wide shut“ (1999).

 

 

 

2.2 Kurze Inhaltsangabe und Aktaufteilung

 

Der 133 minütige Film setzt sich aus drei etwa gleich langen Akten zusammen. Im ersten Akt (Min. 0:00 – 43:29) lernen wir den Protagonisten Alexander DeLarge (allgemein als Alex bekannt) und seine drei Droogs6 Dim, Georgie und Pete kennen. Während

 

Alex die Geschehnisse aus seiner Sicht erzählt, sehen wir, wie er und seine Droogs aus Spaß einen Obdachlosen erniedrigen, in einer Schlägerei mit einer weiteren Bande verwickelt sind und maskiert in das Haus eines Schriftstellers namens Mr. Alexander einbrechen, wo sie seine Frau vergewaltigen. Nach einem Besuch in der sogenannten „Kurowa-Milchbar“, erklären die Droogs Alex, dass Georgeie der neue Anführer werden soll, da sie Alex für zu machthaberisch halten. Daraufhin attackiert Alexander seine Freunde um seine Autorität zu untermauern. Unmittelbar nachdem die Droogs dies akzeptiert haben, bricht Alex in ein weiteres Haus ein. Seine Droogs warten außerhalb. Es ist das Haus einer alten Frau mit der Alex in einen Kampf gerät, bei dem er sie totschlägt. Sobald er fliehen möchte, wird er von seinen Freunden zu Boden geschlagen und von der Polizei verhaftet.

 

Der zweite Akt (Min. 43:30 – 88:03) handelt von Alex, der im Gefängnis von einem Verfahren erfährt, das sich die „Ludovico-Technik“ nennt. Bei diesem Verfahren wird dem Gefängnisinsassen der Drang zu Verbrechen ausgetrieben. Alex bewirbt sich dafür, um aus dem Gefängnis entlassen zu werden. Tatsächlich wird er ausgewählt und nimmt an der Ludovico-Technik teil. Ihm wird eine Substanz verabreicht, die Übelkeit verursacht. Dann werden ihm mehrere Filme über Gewalttaten gezeigt. Darunter befindet sich der Film „Triumph des Willens7, welcher mit der 9. Sinfonie hinterlegt wurde. Die Übelkeit setzt während der Filme ein und durch die regelmäßige Wiederholung des Verfahrens, empfindet Alex Übelkeit, wenn er Verbrechen im Alltag begegnet oder, als Nebenwirkung, die 9. Sinfonie hört. Sobald die Ludovico-Technik vollzogen wurde, wird Alex' „Heilung“ vorgeführt. Dabei wird er erniedrigt und durch eine Frau mit entblößtem Oberkörper mit seinem Drang zur Vergewaltigung in Konflikt gebracht. Ihm wird übel und er lässt sich öffentlich vorführen.

 

Im dritten Akt (Min. 88:04 – 133:46) wird Alex entlassen und kommt mit seinen alten

 

Verbrechen in Begegnung. Er muss das Haus seiner Eltern verlassen, wird von dem Obdachlosen aus dem ersten Akt und dessen Freunde angegriffen und von Georgie und Dim, welche inzwischen Polizisten sind, erniedrigt. Sowohl physisch als auch psychisch verletzt, kommt DeLarge zu Mr. Alexanders Haus. Dieser erkennt den Protagonisten nicht wieder und bietet ihm eine Unterkunft an, da er in Alex eine Chance sieht, eine politische Kampagne gegen die Regierung zu führen. Es stellt sich heraus, dass die Frau des Schriftstellers nach Alex' Einbruch gestorben ist und der Mann den Einbrechern die Schuld gibt. Als Alex in der Badewanne ein Lied singt, erkennt Mr. Alexander die Stimme wieder. In einem Gespräch mit dem Protagonisten erfährt der Schriftsteller, dass Alex beim Hören der 9. Sinfonie an Schmerzen und Selbstmordgedanken leidet. Er verabreicht ihm vergifteten Wein, der ihn einschlafen lässt. Dann sperrt er den Protagonisten im Obergeschoss des Hauses ein und lässt Beethovens 9. Sinfonie laufen. Um seinem Leid ein Ende zu setzen, stürzt sich Alex aus dem Fenster. Allerdings überlebt er den Sturz und wacht schwer verletzt im Krankenhaus auf. Der Innenminister, welcher Stimmeneinbrüche bei den nächsten Wahlen befürchtet, trifft sich dort mit ihm. Durch Alex' Genesung, möchte er vor der Presse wieder Stimmen für die Wahlen erlangen. Dabei lässt der Innenminister Beethovens 9. Sinfonie spielen, welche Alex inzwischen ohne Schmerzen hören kann. Die letzte Szene des Films zeigt ein Paar, das vor applaudierendem Publikum im Schnee Geschlechtsverkehr hat. Es ist eine Vision des Protagonisten, der die Szene und den Film mit den Worten „I was cured. All right.“8 abschließt.

 

Im Gegensatz zu Burgess' ursprünglicher Romanversion, passt sich Alex im Film nicht wieder der Gesellschaft an. Somit orientiert sich Kubrick an der US-Amerikanischen Version des Romans und hinterlässt eine andere Aussage als Anthony Burgess, da Kubrick die Wiederherstellung Alex' gewalttätigen Charakters als positiv darstellt.

 

 

 

2.3 Szenische Darstellung und Ästhetik anhand der ersten Einbruchsszene

 

In der sechsten Szene des Films klingelt Alex an der Tür des Schriftstellers Mr. Alexander. Ms. Alexander geht an die Tür und fragt, ohne sie ganz zu öffnen, was passiert sei. Alex erklärt ihr, dass es einen Unfall gegeben habe und er dringend ihr Telefon benutzen müsse („Excuse me Mrs, can you please help? There's been a terrible accident.“9). Die Frau zweifelt daran, ob sie dem jungen Mann vertrauen solle. Mr. Alexander bittet seine Frau jedoch darum die Tür zu öffnen, damit Alex ihr Telefon benutzen kann. Sobald sie allerdings die Tür öffnet, stürmen Alex und seine Freunde mit Masken verkleidet in das Haus und verwüsten es. Dazu knebeln die vier Droogs die Hauseigentümer und Alex vergewaltigt Ms. Alexander, während ihr Mann dazu gezwungen wird zuzusehen.

 

Die Szene ist ein nahezu perfektes Beispiel für Kubricks ästhetische Szenendarstellung. Sie besitzt eine sogenannte „Ästhetik der Kälte“10. Dies bedeutet, dass er stets eine gewisse Distanz zu den Figuren und deren Handlungen beibehält und somit eine neutrale Sicht auf das Geschehen bietet. Durch die Neutralität entsteht die namensgebende Kälte seiner Ästhetik. Was mittlerweile als „unerreicht(e)“11 visuelle Schönheit gelobt wird, wird bis heute von einigen Kritikern bemängelt, die dem Regisseur vorwerfen, dass die neutrale Darstellungsweise von Alex Verbrechen moralisch verwerflich sei. Kubrick antwortete auf die Vorwürfe damit, dass Kunst keine Verantwortung habe einen moralischen Standpunkt zu vermitteln („Ich denke nicht, dass Kunst die Verantwortung dazu hat, irgendetwas anderes als Kunst zu sein.“12 ). Ein wichtiger Bestandteil seiner audiovisuellen Ästhetik ist der Einsatz der Musik. Diese ist nämlich immer ein narratives Instrument und dient nicht nur zur schlichten Untermalung der Szenen. Wenn in Uhrwerk Orange beispielsweise klassische Musik, wie die 9. Sinfonie von Beethoven, zu hören ist, spielt Kubrick mit den verschiedensten technischen Mitteln wie einem zum Takt abgepassten Schnitt. Auch in der ersten Einbruchsszene erkennt man die Musik als ein zentrales Leitmotiv des englischen Filmemachers. So spiegelt der Klang der Klingel beispielsweise den Anfang der 5. Sinfonie von Beethoven wieder und leitet die Szene ein. Ein weiteres musikalisches Mittel ist Kubricks Einsatz des Synthesizers13.

 

Die eigentliche musikalische Untermalung erfolgt jedoch nicht durch die Einblendung eines Liedes aus dem Off14, sondern durch den Protagonisten selber. Dieser singt nämlich das Lied „Singin' in the rain“ aus dem gleichnamigen, 1952 veröffentlichten, Musical von Gene Kelly und Stanley Donen. Alex' Gesangseinlage wirkt sowohl künstlich als auch authentisch zu gleich. Der Grund dafür ist, dass Malcolm McDowell seine Bewegungen zum Takt des Liedes anpasst. So tritt er Mr. Alexander zum Takt seines Gesangs oder wirft ein Regal während des Höhepunktes im musikalischen Klimax' des Refrains um. Obwohl die euphorische Tonalität des Liedes im Kontrast zu der Gewalt steht, spiegeln einige Passagen des Textes auf ironische Weise das Geschehen der Szene wieder. Beispielsweise singt Alex die Strophe „ready for love“, während er das Kleid der Frau aufschneidet.15 Dadurch wirkt die Szene einstudiert und sorgt für die Künstlichkeit. Die Authentizität entsteht auf der anderen Seite dadurch, dass der Gesang dazu dient, Alex' sadistische Persönlichkeit zu zeigen. Die Tatsache, dass der Protagonist während einer Vergewaltigung ein so frohes Lied singt, spiegelt seinen Wahnsinn wieder und bietet einen Einblick in seinen Charakter. Dabei war das Lied nur eine Improvisation des Schauspielers, um die Kubrick ihn während der Proben gebeten hat. Auf die Frage, warum sich McDowell und Kubrick für ausgerechnet dieses Lied entschieden haben, antwortete der Schauspieler: „Weil [das Lied] Hollywoods Geschenk an die Welt der Euphorie ist. Und das ist was der Charakter in dem Moment fühlt.“16. Ein weiterer Grund ist allerdings auch die Vertrautheit, die mit „Singin' in the rain“ einher geht. Das Lied ist sehr bekannt und lässt dem Zuschauer somit etwas Bekanntes in dieser beklemmenden und befremdlichen Szene verspüren. Somit nimmt es einen Stück der Dramatik heraus. Außerdem verstärkt sie die Wichtigkeit der Szene immens. Denn die Zentralität dieser Szene wird durch die Wiederholung des Liedes im dritten Akt (Min. 107:00) und während des Abspanns (Min.133:55), betont. Die Verwendung während des Abspanns ist außerdem ein endgültiges Zeichen für Alex' Vorliebe für die Gewalt. Zusätzlich ermöglicht „Singin' in the rain“ eine nachvollziehbare Wiedererkennung des Protagonisten durch Mr. Alexander im dritten Akt. McDowell beschrieb den Einsatz des Lieds so: „Das Lied wurde zum Aufhänger und Stanley war so genial es auch so zu benutzen[...]“17.

 

Der unverwechselbare Stil seiner Ästhetik kommt jedoch erst in der visuellen Darstellung gänzlich zu Vorschein. Die Perfektion der Einstellungen zeigt sich aber auch in der symmetrischen Anordnung. Hierbei greift Kubrick nämlich sein Markenzeichen, die sogenannte „one-point perspective“ zurück. Das bedeutet, er arbeitet stets mit Fluchtpunkten, was eine Verstärkung der Symmetrie zur Folge hat18. Dynamik entsteht dann durch die Handkamera, die Kubrick beim Hereinstürmen der Droogs verwendet und gibt dem Zuschauer ein „Mittendrin“-Gefühl. Außerdem wird der Zuschauer so zu Alex' unfreiwilligem Komplizen. Sobald der Protagonist jedoch zu Ruhe pfeift und mit dem Gesang anfängt, wird das Bild ebenfalls wieder ruhiger. In dem Moment, in dem Alex Ms. Alexanders Kleid aufschneidet und ihr Mann vom Boden aus zusieht, befindet sich auch die Perspektive des Zuschauers am Boden. Er schaut Mr. Alexander über die Schultern und sieht Alex aus der Untersicht. Somit wird der Zuschauer zum Voyeur, der sich nicht dagegen wehren kann, zuzusehen. Das Gesicht von Mr. Alexander wird jedoch nicht aus der Obersicht gezeigt, sondern mit einem Close Up19 auf Augenhöhe. Die Kamera befindet sich, so wie der Mann, auf dem Boden, um dem Zuschauer Mr. Alexanders momentane Situation möglichst gut vor Augen zuführen (Min. 13:04). Mit dem Bild weiterhin auf Mr. Alexanders Blick gerichtet, sieht man Alex, welcher sich dem Mann langsam annähert. Dabei sticht vor allem die lange Nase von Alex' Maske ins Auge. Die Nase symbolisiert unterbewusst die sexuellen und erniedrigenden Absichten des Protagonisten. Von dort an wechselt die Einstellung in einen Pov-shot20 vom Schrifsteller, welcher auf Alex gerichtet ist (Min.13:08). Die Untersicht auf den Protagonisten, verkörpert seine Dominanz und unterstreicht die Hilflosigkeit seiner Opfer. Mit den Worten „Viddy well, little brother. Viddy well“ (übersetzt: Sieh gut zu, kleiner Bruder! sieh gut zu!) wendet sich Alex sowohl an Mr. Alexander als auch indirekt an den Zuschauer. Die Aufforderung zuzusehen bricht zudem die Illusion des Beobachters und verdeutlicht, dass dieser gerade eine Szene eines Films schaut. Damit wird ein Effekt erzeugt, der sich durch den ganzen Film zieht. Dieser Effekt ist der Verfremdungseffekt, welcher durch Bertolt Brecht als Gegenstück zum aristotelischen Verständnis des Dramas im epischen Theater seine Verwendung gefunden hat. Hierbei wird dem Zuschauer immer wieder vor Augen gehalten, dass er sich ein Theaterstück oder, im Fall von Uhrwerk Orange, einen Film ansieht. Somit trägt der Verfremdungseffekt in dieser Szene einen essenziellen Teil zur kalten Ästhetik des Films bei. Gleichzeitig werden dem Zuschauer aber auch Einblicke in Mr. Alexanders Psyche gegeben, denn Alex' Satz ist mit einem leichten Hall unterlegt, sodass er wie traumatisierende Worte durch den Kopf des Schriftstellers und des Zuschauers schwebt. Verstärkt wird dieser Moment durch den Einsatz eines Synthesizers, der ertönt, wenn der schockierte Blick des Mr. Alexander und seiner Frau bei der Vergewaltigung gezeigt wird. Die synthetisch erzeugten Geräusche hinterlassen eine unangenehme Atmosphäre, mit welcher die Szene abgeschlossen wird.

 

 

 

2.4 Ausarbeitung des Protagonisten

 

Filmcharaktere sind keine Menschen, sie sind viel mehr als das. Menschen handeln oft irrational und unvorhersehbar. Ihre Taten widersprechen häufig ihrem wahren Charakter und es ist schwer einen Menschen zu durchschauen. Robert McKee, ein berühmter Drehbuchdozent, schreibt, dass eine Figur „genauso wenig ein menschliches Wesen (sei), wie die Venus von Milo eine echte Frau (ist)“21. Eine Figur kennen wir allerdings wie unsere eigene Westentasche. Sie hat bestimmte Charakterzüge und Werte, nach denen sie immer handelt. So auch Alex. Auf den ersten Blick wird bereits klar, dass Alex ein gewalttätiger Psychopath ist, der immer nach den Werten der Anarchie, Gewalt und der Befriedigung seiner Gelüste handelt. Damit zeichnet sich Alex auch als einen klaren

 

Opportunisten aus. Ihm ist kein Mittel zu schade um sein Ziel zu erreichen. Dies zeigt sich beispielsweise dann, wenn er seine Droogs schlägt und ins Wasser stößt um sich Respekt zu verschaffen. Vor allem erkennt man diesen Opportunismus, sobald Alex in das Gefängnis kommt. Im Gefängnis zeigt sich der Protagonist nämlich äußerst gehorsam und freundlich. Er freundet sich sogar mit dem Pastor der Haftanstalt an. Allerdings

 

verhält er sich nicht so, weil er zu einem besseren Menschen geworden ist, sondern weil er für die Ludovico-Technik vorgeschlagen werden möchte, um aus dem Gefängnis heraus zu kommen. Hinter seinen Taten steckt also immer eine gewisse Motivation, die sein Verhalten stets nachvollziehbar macht. Es lässt sich sogar eine nachvollziehbare Motivation für seine Gewalttaten erkennen. Der Protagonist lebt in einer finanziell abgesicherten Familie, geht zur Schule und lebt einen monotonen Alltag. All das langweilt den Erzähler und ist damit seine Motivation. Somit ist Alex nur ein Produkt seiner Umgebung, welches versucht seinem eigentlichen Charakter freien Lauf zu lassen und Spaß zu haben. Er möchte der Monotonie seines Alltags entkommen und greift dabei auf moralisch verwerfliche Verhaltensweisen zurück. Die Befriedigung seiner Bedürfnisse ist nicht nur seine größte Motivation, sondern auch ein wichtiger Bestandteil der Empathie, die der Zuschauer für ihn verspürt. Anders als die Menschen in Alex' Umgebung, akzeptiert er seine Gelüste und traut sich diese aus zu leben. Damit vertritt Uhrwerk Orange den Spruch „homo homini lupus22, der aussagt, dass in jedem Menschen der innere Wille nach Gewalt und unmoralischem Verhalten vorherrscht. Im Gegensatz zu anderen Menschen, verdrängt Alex diesen Willen jedoch nicht und wirkt dadurch teilweise menschlicher als die anderen Figuren im Film. Seine Entscheidungsfreiheit und Ehrlichkeit, die damit einhergeht, steht im direkten Kontrast mit der Ludovico-Technik. Denn hierbei wird dem Protagonisten jede Chance zur freien Entscheidung entzogen. Dadurch gelingt es dem Zuschauer noch mehr Empathie für den Antihelden zu empfinden. Um die Empathie stark und überzeugend zu machen, wird Alex als ein sehr intelligenter und kultivierter Jugendlicher dargestellt. Er ist der Einzige in seiner Welt, der die klassische Musik von Beethoven und die Kunst schätzt, während Dim beispielsweise eine Frau, mit unangebrachten Geräuschen unterbricht, als diese die 9. Sinfonie singt.23

 

Das spiegelt sich auch in seinen Gewaltakten wieder. Während seine Droogs diese bloß ausleben, macht Alex aus ihnen förmlich einen ästhetischen Tanz. Er kreiert seine eigene Art von Kunst aus den Exzessen. Das hat den Nebeneffekt, dass die Grausamkeit aus seinen Verbrechen gezogen wird. Außerdem werden diejenigen, die Alex für einen Verbrecher halten, als gedankenlos und albern dargestellt. Beispielsweise wirkt der Gefäng-niswärter durch seine überspitzte Gestik und laute Stimme als unfreiwillig komisch. All die Elemente, die „Uhrwerk Orange“ für einige als Komödie erscheinen lassen, gehen also von den Figuren aus, die Alex' Werte verachten. Zusätzlich nimmt der Regisseur kleine Veränderungen zum Roman vor. So hat er eine Szene, in der Alex zwei jüngere Mädchen vergewaltigt, so abgeändert, dass der Protagonist zwei gleich alte Frauen dazu überredet mit ihm zu schlafen. Der Akt wird auf komödiantische Weise im Zeitraffer24 unter der Wilhelm Tell Ouvertüre25 gezeigt. Kubricks letzte und weniger offensichtliche Methode um Empathie für seinen Hauptcharakter zu erzeugen ist die Art der Erzählung. Während des gesamten Films begleiten wir nur Alex. Die Erzählung weicht niemals von ihm ab und in nahezu jeder Szene ist er involviert. Dadurch baut der Zuschauer eine enge Verbindung zu dem Protagonisten auf, die durch die Tatsache, dass Alex aus dem Off zum Publikum spricht, noch weiter verstärkt wird.

 

Auch wenn eben genau diese Sympathie für den gewalttätigen Jugendlichen oft kritisiert wird, so ist sie der Hauptgrund, warum der Film so beliebt ist. Dem Publikum wird die Möglichkeit geliefert, sich in einen außergewöhnlichen Psychopathen hinein zu versetzen, dessen Verhalten in Alex' Weltbild sogar als richtig erscheint. Das bedeutet, es geht hier eine ganz besondere Form der Katharsis26 hervor, da der Zuschauer die Befriedigung seiner unterbewussten, unmoralischen Wünsche erfährt, die ihm im realen Leben verwehrt wird.

 

 

 

3. Fazit

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Stanley Kubrick seine Visionen mithilfe seiner kalten Ästhetik sehr geschickt visualisiert hat. Dazu hebt sich der Film, durch seine vielen verschiedenen Stilmittel wie der einwandfreien Symmetrie, von allen anderen Filmen des Genres stark ab und trägt seine ganz eigene Handschrift. Die kontroverse Grundaussage und Thematik, in Verbindung mit der Darstellung, tragen massiv dazu bei, dass „Uhrwerk Orange“ heute noch polarisiert und vor allem fasziniert. Genau aus diesen Gründen ist es nicht nur einer der besten Literaturadaptionen, sondern eines der außergewöhnlichsten Kunstwerke in der Filmgeschichte.

 

 

1 Hollywood Ära, in der von 1967 bis Ende der 1970er junge Regisseure durch unkonventionelle Filme

 

eine Gegenbewegung zum damaligen Kino schufen (bekannte Vertreter: Roman Polanski, Woody Allen,

 

Martin Scorsese und George Lucas).

 

2 vgl. „Oh, du glücklicher Malcom“. (R:Harlan, J., 2006), Min. 18:29-18:37

 

3 Eine für als „nicht für Jugendliche geeignet“ eingestufte Altersfreigabe für Filme und Literaturwerke

 

4 vgl. Kaul, S./ Palmier, J., Stanley Kubrick, München 2010, S.61

 

5 vgl. https://www.google.de/amp/s/www.rogerebert.com/review/amp/a-clockwork-orange-1972 (Zugriff

 

17.02.2018)

 

6 Bezeichnung für „Freunde“ (vgl. Burgess, A., Clockwork Orange , München, o.J, S.219)

7 NS-Propagandafilm der deutschen Regisseurin Leni Riefenstahl aus dem Jahr 1935 über den Reichspar-

 

teitag

 

8 vgl. Uhrwerk Orange. (R: Kubrick, S., 1971), Min. 133:55

 

 

 

9 vgl. Uhrwerk Orange. (R: Kubrick, S., 1971), Min. 10:12

 

10 vgl. Kaul, S.; Palmier, J., Stanley Kubrick, München 2010, S.15

 

11 vgl. http://www.weltenschummler.com/filme-tv-serien/stanley-kubrick-signature-shot/

 

12 vgl. Kaul, S.; Palmier, J., Stanley Kubrick, München 2010, S.19

13 Musikinstrument, welches elektronisch, synthetische Klänge erzeugt

 

14 Ton, welcher nicht innerhalb des Bildes produziert wird (z.B der Soundtrack eines Filmes)

 

15 vgl. Uhrwerk Orange. (R: Kubrick, S., 1971), Min. 12:38

 

16 vgl. http://www.songfacts.com/detail.php?id=6467 (Zugriff 22.02.2018)

17vgl. Oh, du glücklicher Malcom. (R:Harlan, J., 2006), Min. 19:36

 

18 siehe Anhang

 

19 eine sehr nahe, detaillierte Einstellung einer Person oder Objekt

 

 

 

 

20 Point of view: Eine Einstellung, die die Sicht einer Person darstellt und das zeigt, was sie sieht

21 vgl. McKee, R., Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens, Berlin 2016, S.403

 

 

 

22 Erfunden von dem römischen Dichter Titus Maccius Plautus (übers. „Der Mensch ist dem Menschen

 

sein Wolf“)

 

23 vgl. Uhrwerk Orange. (R: Kubrick, S., 1971), Min. 15.04

 

 

 

 

 

 

24 filmisches Stilmittel, bei dem das Geschehen in drastisch erhöhter Geschwindigkeit dargestellt wird

 

25 Ouvertüre des Komponisten Gioachino Rossini.

 

26 Definition Duden: Läuterung der Seele von Leidenschaften als Wirkung des [antiken] Trauerspiels

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4. Anhang

 

 

 

 

5. Literaturverzeichnis

 

 

 

Bücher

 

- Burgess, Anthony: Clockwork Orange. 16.Auflage. München o.J.

 

- Beil, Benjamin/ Kühnel, Jürgen: Studienhandbuch Filmanalyse. 2., aktualisierte Auf-

 

lage. Paderborn 2016. S.27 ff./ S.57 ff.

 

- König, Siegfried: Die Welt des Kinos. Eine Reise durch die Geschichte des Films.

 

Nürnberg 2015. S. 194-199.

 

- Kaul, Susanne/ Palmier, Jean-Pierre: Stanley Kubrick. München 2010.

 

S. 7-20/ S.57- 69.

 

- McKee, Robert: Story. Die Prinzipien des Drehbuchschreibens. Überarbeitete 11. Auf-

 

lage. Berlin 2016. S.403

 

- Elsaesser, Thomas/ Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung. 5., unveränderte Auf-

 

lage. Frankfurt a.M 2017.

 

 

 

 

 

Internetquellen

 

- Ebert, Roger. A Clockwork Orange. URL:

 

https://www.rogerebert.com/reviews/a-clockwork-orange-1972 (Zugriff. 17.02.2018)

 

- König, Siegfried: Uhrwerk Orange. URL:

 

http://www.filmzentrale.com/rezis/uhrwerkorangesk.htm (Zugriff 20.02.2018)

 

- Marco. A Clockwork Orange: Alex Delarge als Alptraum der Gesellschaft. URL:

 

https://screenheroes.net/clockwork-orange/ (Zugriff 18.02.2018)

 

- Mayer, Jonas: Uhrwerk Orange/ Clockwork Orange. URL:

 

https://www.martinschlu.de/kulturgeschichte/zwanzigstes/film/scifi/clockworkoran-

 

ge.htm (Zugriff 03.02.2018)

 

- Mügge, Marvin: Stanley Kubrick signature shot. URL:

 

http://www.weltenschummler.com/filme-tv-serien/stanley-kubrick-signature-shot/ (Zu-

 

griff 20.02.2018)

 

- Duden. Katharsis, die. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Katharsis

 

- Film Glossary. URL: http://www.owlnet.rice.edu/~engl377/film.html (Zugriff:

 

04.02.2018)

 

- Inhaltsangabe: Uhrwerk Orange von Anthony Burgess. URL:

 

https://literaturhandbuch.de/inhaltsangabe-uhrwerk-orange-von-anthony-burgess/ (Zu-

 

griff 03.02.2018)

 

- logq_fa. A movie that shows how Kubrick's work are using one-point perspectives.

 

URL: http://gigazine.net/gsc_news/en/20120901-kubrick-one-point-perspective (Zu-

 

griff 24.02.2018)

 

- Singin' in the rain by Gene Kelly. Songfacts. URL:

 

http://www.songfacts.com/detail.php?id=6467 (Zugriff 22.02.2018)

 

 

 

 

 

Film und Videoquellen

 

- diefilmfabrik. Uhrwerk Orange/Analyse&Kritik/A Clockwork Orange/ Stanley Ku

 

brick/ Anthony Burgess. URL:

 

https://www.youtube.com/watch?v=K0FsKy5Dp8A&oref=https%3A%2F%2Fwww.y-

 

outube.com%2Fwatch%3Fv%3DK0FsKy5Dp8A&has_verified=1 (Zugriff

 

03.02.2018)

 

- Oh, du glücklicher Malcom. (R: Harlan, Jan. 2006)

 

- ScreenPrism. A Clockwork Orange: A Glamorous Psychopath. URL:

 

https://www.youtube.com/watch?v=DKY09vZWj88 (Zugriff 12.02.2018)

 

- Uhrwerk Orange. (R: Kubrick, Stanley. 1971)

 


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